Die Größen der Technik

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Filippo Brunelleschi

Möchte man gerne die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen illustrieren, so nehme man das Jahr 1377 als plakatives Beispiel: Diesseits der Alpen legen die Bürger von Ulm den Grundstein zur heute noch höchsten Kirche der Welt, dem Ulmer Münster, und zwar im gotischen Baustil. In Südtirol erblickt Oswald von Wolkenstein das Licht der Welt und lebt fortan im beginnenden Spätmittelalter. Und auf der anderen Seite der Poebene tut Filippo Brunelleschi, der erste Renaissance-Architekt, in Florenz seinen ersten Schrei.


Brunelleschi, zur Kuppel hinaufschauend
Filippo Brunelleschi wird als Sohn des Notars Ser Brunellesco Lippi und der Giuliana Spini in eine wohlhabende Familie geboren. Urkundlich tritt er erstmals mit 21 Jahren ins historische Bewusstsein, als der gelernte Goldschmied – das Erlernen der Goldschmiedekunst war den vornehmen Leuten vorbehalten – die Aufnahme in die Seidenweberzunft beantragt, die damals eine der mächtigsten Zünfte der Stadtrepublik Florenz ist.

Bei der Ausschreibung für die Gestaltung des Bronzetores für das Baptisterium des Doms Santa Maria del Fiore unterliegt er Lorenzo Ghiberti, dessen Arbeit von Michelangelo Buonarotti später als „Paradiespforte“ bezeichnet werden sollte.

Ob Brunelleschi zu Beginn des 15. Jahrhunderts seine mehrjährige Studienreise nach Rom tatsächlich in Begleitung seines jungen Freundes Donatello antritt, wie der Vater der Kunstgeschichtsschreibung, Giorgio Vasari, in seinem Biographischen Kunstlexikon behauptet, ist nicht gesichert. Wir wissen aber, dass sich Brunelleschi dort im Rahmen seiner Studien der Bauweise antiker Meister besonders für die Konstruktion des bis weit ins 19. Jahrhundert hinein größten Kuppelbaus der Welt interessiert, nämlich des 118-125 n. Chr. erbauten Pantheons.

Zunächst ist Brunelleschi noch eine Reihe von Jahren mit der Bildermalerei beschäftigt, in die er als Neuerung die mathematisch konstruierbare Perspektive einführt, die den Maler Filippo Lippi und damit auch dessen Schüler Sandro Botticelli beeinflussen wird. Auch sein posthumer Kollege Bramante beginnt seine architektonische Karriere mit scheinperspektivischer Wandmalerei.

Florenz hat architektonisch gesehen einen großen Aufholbedarf gegenüber den übrigen italienischen Stadtstaaten des Quattrocento, weil es sich 150 Jahre lang in erster Linie um die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für seine spätere Vormachtstellung gekümmert hatte. Nun muss mit einem Schlag ein langer künstlerischer Rückstand übersprungen werden, was durch den Bau des Domes und vor allem durch eine dominierende Kuppel geschehen soll. In den italienischen Stadtstaaten gilt die Architektur von jeher als Trägerin der Staatsideen. Im Mittelalter ist der Turm oder die Turmgruppe das höchste architektonische Zeichen städtischer Majestät, was man zB an den Geschlechtertürmen in Bologna gut sehen kann. Jetzt wird die Kuppel das Symbol für Macht und Überlegenheit, das, siehe Kapitol in Washington von 1857, bis heute Gültigkeit hat.

Der Dom von Florenz, Santa Maria del Fiore. Die Marmorrippen sind weithin sichtbar


So wird die Kuppel des bereits in Bau befindlichen Florentiner Doms in mehreren Planungsphasen vorangegangener Baumeister immer wieder noch größer und prächtiger vorgesehen, um auch die erst kürzlich gebauten der Konkurrenzstädte Pisa und Siena zu übertrumpfen, ohne dass man jedoch weiß, wie das jemals gehen soll, noch dazu, weil die (runde) Kuppel nicht auf einem Kreis, sondern auf einem bereits bestehenden Oktogon aufzubauen ist.

Das Problem mit der Kuppelkonstruktion ist nicht nur die Größe von 42-45 m Durchmesser an sich, sondern auch noch die Höhe, in der die Kuppel sich befindet. Es ist ein Unterbau nötig, um eine Kuppel zu konstruieren. Dieser Unterbau ist gewöhnlich aus Holz gemacht, und da Bäume nicht in den Himmel wachsen, die Kuppel aber erst in 52 Metern Höhe ansetzt, ist eine ganz neue Idee nötig. Der Vorschlag, einen großen Haufen Schutt als Unterbau zur Überwölbung zu verwenden, wird wegen Undurchführbarkeit ebenso verworfen wie eine „Lehrgerüst“ genannte Holzkonstruktion vom Boden her, weil diese mindestens 700 wirklich große Baumstämme erfordert hätte, und Italien ist nicht gerade berühmt für seinen Holzreichtum.

Nur weil die Kommission keinen besseren Gegenvorschlag hat, entscheidet Brunelleschi die Ausschreibung für den Kuppelbau für sich. Niemand glaubt, dass die von ihm vorgeschlagene Konstruktion durchführbar ist (denn es gibt keine Referenzbauten. Die letzte nennenswerte Kuppel, die vorher gebaut wurde, ist die Hagia Sophia aus dem Jahre 563), und so muss Brunelleschi, der ja kein gelernter Baumeister, sondern Goldschmied ist, lange Jahre eine Beaufsichtigung durch Lorenzo Ghiberti hinnehmen, dem er damals bei der Gestaltung der Baptisteriumstüre unterlegen war.


Modell der Kuppelkonstruktion von Santa Maria del Fiore
Brunelleschi macht folgendes: Er übernimmt ein Bauprinzip aus der nordeuropäischen Gotik, die Rippenwölbung. Er verlegt Rippen an jede Ecke des Oktogons und jeweils zwei zusätzliche im Innern jeder Gewölbekappe, die miteinander durch Querbalken verbunden sind. Die äußeren sind die weithin sichtbaren acht großen Marmorrippen.

Durch diese insgesamt 24 Rippen entsteht ein Skelettsystem, auf dem zwei ineinander verschalte Kuppeln, eine innere und eine äußere, angebracht werden können. Diese Verschalungen aus Ziegelsteinen werden in einzelnen Ringen nach und nach so gemauert, dass die Kuppel ohne Lehrgerüst errichtet werden kann, sondern mithilfe eines Gerüstes, das in der Kuppel selbst verankert wird.


Innenraum des ersten tatsächlichen Renaissancebaus San Lorenzo in Florenz
Was jahrhundertelang als erstes Werk der Frührenaissance angesehen wurde, basiert jedoch in den Augen heutiger Forscher auf gotischem, also mittelalterlichem Wissen und Vorkonstruktionen, weshalb der benachbarten Kirche San Lorenzo, der Hauptkirche der Medici, der Ruhm als erstes echtes Renaissancebauwerk zukommt: Da Brunelleschi mit der Lösung des Kuppelproblems Aufsehen erregt hat, bekommt er von Cosimo Medicis Vater den Auftrag, an die aus dem 4. Jahrhundert stammende Kirche zunächst nur eine neue Sakristei anzubauen. Wegen des großen Erfolges wird der Auftrag auf die Konstruktion eines neuen Langhauses erweitert, das als erster Kirchenbau der Renaissance bzw. als erster Kirchenbau der modernen Kunstgeschichte in die Geschichte eingehen sollte. Kennzeichnend dafür ist die Einführung optischer Fluchtlinien, die nicht nur gefühlt, sondern berechnet sind.

Abbildende Kunst im Mittelalter zeigt nicht das Gesehene, sondern illustriert wichtige Vorgänge wie Krönungen, Vertragsabschlüsse, Jahreszeitenabfolge. Proportionalität und Perspektive wird entsprechend der Wichtigkeit und der Hierarchie der Abgebildeten verstanden (je wichtiger, desto größer). Seit Brunelleschi sich mit der Zentralperspektive beschäftigt hat, die durch die Regeln der Euklidischen Geometrie zu erfassen ist, wird mit dieser jahrhundertealten Tradition gebrochen, und die Wirklichkeit wird optisch anders dargestellt, nämlich nach den naturwissenschaftlichen Regeln der Perspektive: je weiter weg, desto kleiner.

Brunelleschi muss ein misstrauischer Mensch gewesen sein, denn er hält seine Pläne und Zeichnungen gegenüber seinen Kollegen und Mitarbeitern immer geheim und verwendet eine selbsterfundene Geheimschrift, um sich gegen Plagiate und Datenklau zu schützen. Seine auf drei Jahre gewährte Erlaubnis aus dem Jahre 1421, als einziger ein von ihm selbst konstruiertes Schiff mit Hebevorrichtung zum Marmortransport zu bauen, wird als erstes industrielles Patent angesehen, denn Patente und Urheberrecht gibt es zu dieser Zeit noch nicht. Leonardo da Vinci ist von Brunelleschis Hebekonstruktion so begeistert, dass er einige Zeichnungen davon anfertigt. Auch Leonardo ist für seine Finten bekannt, sich vor Ideendiebstahl zu schützen: Einerseits hat er alle seine Pläne und Aufzeichnungen in Spiegelschrift gehalten, und andererseits hat er in viele Planzeichnungen einen Fehler eingebaut, so dass viele seiner Apparate nicht funktionieren konnten, außer, man drehte zB die Richtung eines Rades um.


Ospedale degli Innocenti, Florenz, Beginn der Frührenaissance 1419
Filippo Brunelleschi stirbt 1446 mit 69 Jahren und wird mit großen Ehren im Dom beigesetzt. Die Marmorplatte mit einer Inschrift, die ihn aufgrund seiner vielen Erfindungen mit Daedalus vergleicht, ist heute noch zu sehen.

Auch wenn die Kuppel mehr Strahlkraft besitzt und daher als Hauptwerk alle anderen Bauten Brunelleschis in der Wahrnehmung verdeckt, gilt sein Findelhaus in Florenz, Ospedale degli Innocenti, begonnen 1419, als erster Renaissancebau überhaupt. Eine kleine hölzerne Drehtüre (»Ruota«) an der linken Schmalseite der Säulenhalle ermöglichte noch bis 1875 die anonyme Abgabe von unerwünschten Kindern. Die Babyklappe ist also keine umwerfende Neuerung der Gegenwart.

An dieser Stelle war die "Babyklappe"