Die Größen der Technik
<< zur NamenslisteGeorges Cuvier
Cuvier teilt ganz viel: das Geburtsjahr mit Napoleon, die Schule mit Schiller, die Tierwelt neu ein, den Titel eines Pairs von Frankreich mit Laplace, und das Sterbejahr mit Goethe.
Georges Léopold Chrétien Frédéric Dagobert Cuvier ist Sohn einer Hugenottenfamilie und wird in Mömpelgard, dem heutigen Montbéliard, geboren, das damals zu Württemberg gehörte. Der Vater, Jean Georges Cuvier, ein pensionierter Leutnant eines Schweizerregiments, ist aus Glaubensgründen mit seiner Frau Anne Clémence Chatel aus dem Jura eingewandert. Der junge Georges interessiert sich schon in der frühesten Jugend für die Naturwissenschaften. Die Lektüre von Buffons Naturgeschichte in sieben Bänden prägt sein weiteres Leben, und bereits im Alter von 12 Jahren legt er eine naturkundliche Sammlung an.
Den letzten Schliff seiner Schulbildung erhält er an der Hohen Karlschule in Stuttgart, die 1770 als militärische Pflanzschule zur Heranbildung der württembergischen Führungselite von Herzog Karl Eugen gegründet und 1781 von Kaiser Joseph II. zur Universität erhoben wurde, bevor sie 13 Jahre später von Karl Eugens Nachfolger geschlossen wird. Auch Friedrich Schiller ist - allerdings früher - Student an dieser sehr strikt geführten Drillschule. Anders als dieser jedoch fällt er durch außergewöhnliche Leistungen auf und lernt in Stuttgart nicht nur die deutsche Sprache, sondern bei seinem Lehrer J.S.v.Kerner auch das Sezieren.
Georges Cuvier als junger Mann, Gemälde von Francois-André Vincent
Rostellaria pes pelicani, 1817, gezeichnet von Cuvier
Die Neptunisten, vertreten durch den Leiter der Freiberger Bergakademie Abraham Gottlob Werner (1749 – 1817), vermuten – wohl in Anlehnung an die Schöpfungsgeschichte - als Ursprung der mineralischen Erdkruste ein Ausfallen des Gesteins als Sediment aus einem primordialen Urozean, aus dem sich mit stetig sinkendem Meeresspiegel das Urgebirge herauskristallisiert hat. Von den Neptunisten stammt auch die Einteilung der Gesteinsgruppen in die vier Hauptarten uranfängliche Gebirgsart, Flöz-Gebirgsart, vulkanische Gebirgsart und aufgeschwemmte Gebirgsart. Dem Vulkanismus, der ja unleugbar vorhanden ist, messen die Neptunisten nur lokale Bedeutung zu. Unter den Anhängern des Neptunismus finden sich auch der deutsche Romantiker Novalis, ein Schüler Werners, und Goethe, der sich mehr als aus dem Deutschunterricht bekannt auch mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt. Auch Alexander von Humboldt hängt bis zum Ende seiner Südamerika-Expedition dem Neptunismus an, tritt aber 1826 aufgrund seiner dort erhobenen geognostischen Daten quasi öffentlich zum Plutonismus über.
Georges Cuvier (1769 – 1832) nun vermischt mit seiner Kataklysmentheorie (griech. kataklysmos = Überschwemmung) quasi den revolutionären Ansatz der Plutonisten mit dem evolutionären der Neptunisten: Eine Folge von mehreren Naturkatastrophen (vorwiegend Überflutungen) ist für das heutige Antlitz der Erde verantwortlich. Dem gegenüber steht Charles Lyell (1797 – 1875), der Huttons Theorie des Aktualismus weiterentwickelt. Nach dem von ihm formulierten Gleichförmigkeitsprinzip entwickeln sich geologische Erscheinungen in mehreren wellenförmigen Zyklen, so dass direkte Rückschlüsse von heutigen geologischen Prozessen auf frühere möglich sind. Dies baut er zur Theorie des Gradualismus aus, der Gleichförmigkeit der Veränderungen. Der Aktualismus ist auch Voraussetzung für Charles Darwins (1809-1882) Evolutionstheorie.
Tafel 30 aus Cuviers Recherches sur les ossements fossiles des quadrupedes aus 1812: ein Hippopotamus (Nilpferd)
In seiner berühmten Veröffentlichung Discours préliminaire zu den Recherches sur les ossements fossiles des quadrupèdes aus dem Jahre 1812 führt er aus, dass aufgrund der genauen Eingepasstheit jeder Spezies in die Natur von einem einzigen Knochen aus auf das gesamte Knochengerüst geschlossen werden kann. Denn jedes organisierte Lebewesen bilde ein Ganzes, ein geschlossenes System, dessen Teile einander entsprechen. So identifiziert Cuvier (der selbst selten in die Natur geht, um nach Fundstücken zu suchen, sondern die meisten durch ein Netzwerk von Assistenten und Informanten zugetragen bekommt, vieles davon auch nur als Zeichnung) einmal aufgrund seiner Studien und Erkenntnisse die Versteinerung eines Pterosauriers, die ihm von C.A. Collini überlassen wird, richtig als fliegendes Reptil, ohne dass man von dieser Spezies jemals vorher gehört hätte.
In seinem späteren Forscherleben beschäftigt sich Cuvier in erster Linie mit der vergleichenden Anatomie und der systematischen Klassifikation des Tierreichs. 1817 bringt er Le regne animal distribué d´après son organisation (zu deutsch: Das Tierreich nach Gestaltung unterteilt) heraus, das durch sein grundlegend anderes Verständnis der Tiervielfalt die althergebrachte Scala Naturae ablöst, wo man das gesamte Leben auf der Welt als eine geordnete Hierarchie, als eine einzige ununterbrochene Kette vom niedrigsten zum am höchsten Entwickelten (typischerweise der Mensch) begriff. Was man nicht genau zuordnen konnte, wurde als Zwischenglied eingestuft: So wurden beispielsweise Pilze als Zwischenglied zwischen Steinen und einfachen Pflanzen angesehen. Cuvier nun teilt die Tiere in vier voneinander getrennten Gruppen ein: in Vertebrata (Wirbeltiere wie Säugetiere), Mollusca (Weichtiere wie Schnecken), Articulata (Gliedertiere wie Insekten) und Radiata (Hohltiere wie Korallen). Zwischen ihnen gibt es morphologische Unterscheidungen, so dass keine Zwischenglieder existieren und keine durchgehende fortschreitende Entwicklungskette besteht, sie also auch nicht aufeinander rückführbar sind.
Im Jahr 1830 kommt es zum sogenannten Pariser Akademiestreit zwischen den ehemaligen Freunden Etienne Geoffroy Saint-Hilaire und Georges Cuvier, der von der gesamten Gelehrtenwelt aufmerksam verfolgt wird und Johann Wolfgang von Goethe Anlass für mehrere Wortmeldungen gibt. Die beiden Kontrahenten vertreten unterschiedliche Ansichten über eine mögliche Entwicklung und Verwandtschaft in der Tierwelt, wobei Saint-Hilaire an die Existenz eines Grundbauplans für alle Lebewesen (Unité de Composition) und damit an die Möglichkeit einer Evolution glaubt, wohingegen Cuvier, der exakte Anatom, einzelne konstante Gruppen konstatiert und damit die Evolution ablehnt. Der Schriftsteller Honoré de Balzac, ursprünglich ein Bewunderer Cuviers, karikiert ihn 1840 in der satirischen Erzählung Guide-âne à l´usage des animaux que veulent parvenir aux honneurs (etwa: Eselsführer zum Gebrauch für Tiere, die hoch hinaus wollen) als „Baron Cerceau“, als Reifen-Baron, den geschickten Nomenklatur-Macher.
Cuvier war vielfach dekoriert.
1804 heiratet Cuvier die Witwe des Steuerpächters Davaucel, der im Jahre I der Revolution guillotiniert wurde. Sie bringt vier Kinder mit in die Ehe, von denen keines das Erwachsenenalter erreicht. Mit ihr hat er vier weitere Kinder, die alle vor ihm sterben und am Pariser Friedhof Père Lachaise begraben sind. Er selbst stirbt bald nach seiner Ernennung zum Pair am 13. Mai 1832, möglicherweise an der Cholera, und ist im Pariser Pantheon beigesetzt, was die allerhöchste Ehre im Leben – nunja: im Tode – eines Franzosen darstellt. Sein Name ist einer der 72 Namen auf dem Eiffelturm. Der Cuvier-Schnabelwal, den er 1823 als erster beschreibt, ist ebenso nach ihm benannt wie die Cuvierschen Schläuche der Seewalzen. Der Zoologe Frédéric Cuvier ist sein jüngerer Bruder.