Die Größen der Technik
<< zur NamenslisteJustus Liebig
Justus Liebig wird am 4. Mai (Mutter), 8. Mai (Grabstein München) oder 12. Mai (Kirchenbuch, heute gängig verwendetes Datum) 1803 in Darmstadt geboren und kommt schon früh mit Chemie in Berührung, weil sein Vater, ein Drogist, eine Farben- und Lackehandlung betreibt und er mit den dortigen Materialien experimentieren kann. Die Mutter ist ein uneheliches Kind eines schwäbischen Wanderschneiders und einer Darmstädter Landwirtstochter und wird von einer Familie Möser adoptiert. Sie ist für ihre Schlagfertigkeit und ihr präzises Mundwerk bekannt. Justus ist der zweite Sohn nach seinem Bruder Louis und das zweite von acht Kindern.Vater Johann Georg Liebig, Sohn eines Schuhmachers aus dem Odenwald, Mitglied der Darmstädter Gilde der Ladeninhaber, ist ein geschickter Mann, der sich selbst genügend Chemie beibringt, um im den 1820er Jahren sein Geschäft mit Acetylengas beleuchten zu können, welches er aus Tierknochen herstellt. Er arbeitet hart am gesellschaftlichen Aufstieg seiner Söhne Luis und Justus aus dem Kleinbürgertum ins Bildungsbürgertum und schickt sie aufs Gymnasium. Allerdings geht Justus, der jünger ist als seine Klassenkameraden, bereits in der Secunda ab, das ist mit 14 Jahren. In seiner autobiographischen Skizze, die er mit 60 Jahren anfertigt und die viel zur Legenden- und Anekdotenbildung beigetragen hat, erklärt er dies damit, dass er vom Vizerektor als Schafkopf tituliert und für dumm erklärt wird. Wahrscheinlicher ist, dass Vater Johann das Schulgeld für den mittelmäßigen Schüler nicht mehr aufbringen kann, weil er mit seiner Farbenhandlung schwer durch die Kontinentalsperre beeinträchtigt ist, die die Rohstoffeinfuhr aus England unterbindet. Gleichzeitig werden in Hessen-Darmstadt die Abgaben erhöht. Hessen hatte das napoleonische Frankreich unterstützt, entsprechend hart ist die Zeit nach dem Wiener Kongress 1815.
Justus wird zu einem Apotheker nach Heppenheim vermittelt, der ihn jedoch nach 10 Monaten wieder heimschickt. Liebig spricht in seiner Lebensskizze davon, dass ihm nach dieser Zeit die Pharmazie endgültig zu langweilig geworden sei, ihm, der ja Chemiker werden wollte. Später wird die Begründung verbreitet, dass der Apothekerlehrling durch explosive Experimente den Dachstuhl in Brand gesetzt hat, so dass ihm die weitere Lehre verweigert wurde. Aus dem Briefwechsel des Vaters mit dem Lehrherrn geht jedoch hervor, dass das Lehrgeld nicht bezahlt wurde. Das passt aber nur schlecht in eine Freiherrn-Biographie (Liebig wird 1845 nobilitiert), so dass die Explosionsgeschichte auf den sogenannten Liebig-Bildern seit den 1880er Jahren unters Volk gebracht wird.
Liebigbild: Der junge Justus verursacht eine Explosion in der Apotheke von Heppenheim.
Justus arbeitet in den nächsten beiden Jahren im Geschäft seines Vaters mit, der Zugang zur großherzoglichen Hofbibliothek hat, was der Sohn weidlich ausnutzt und sich kreuz und quer alles über Chemie anliest, was er finden kann. Er interessiert sich speziell für Farbstoffe, Pigmente und Lacke und möchte pharmazeutischer Chemiker oder Fabrikant werden. Chemie ist für ihn nur in der unmittelbaren Anwendung interessant. Er befasst sich auch mit sogenannter Jahrmarkt-Chemie, wo Schausteller aus Knallquecksilber Knallfrösche und Ähnliches herstellen. Nachdem er die Zusammensetzung aus Knallquecksilber, Salpetersäure und Alkohol ermittelt hat, stellt er selbst Knallkörper für das väterliche Geschäft her.
1820 ist der Schulabbrecher Justus Liebig aus Darmstadt dann Student in Bonn. Wie das? Die altehrwürdige hessische Landesuniversität in Gießen, wo den Medizinstudenten oberflächlich Chemie beigebracht wird, kommt ohne Matura nicht in Frage. Vater Liebig ist aber der Chemikalien-Lieferant für den damals führenden deutschen Chemiker Karl Wilhelm Gottlob Kastner, der nach Heidelberg und Halle nun an der neu gegründeten Universität in Bonn Professor für Chemie ist, und kann den Sohn vermitteln.
Bonn, jahrhundertelang die Residenzstadt der Kölner Kurfürsten, war nach dem Wiener Kongress an Preußen gefallen. Die Preußischen Reformen unter Politikern wie dem Freiherrn vom Stein, Karl August von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt enthielten auch eine "Bildungsoffensive", in deren Rahmen 1818 mit der Gründung der Rheinischen Universität in Bonn ein neuer Anfang gesetzt wurde, nachdem die alte kurfürstliche Universität in den Nachwehen der Revolution von den französischen Besatzungstruppen 1794 geschlossen worden war. Sie wird als Schwesteruniversität zur Berliner Universität von 1810 gegründet.
Damit die Ausbildung nicht wieder an der finanziellen Situation scheitert, erwirkt der Vater durch seine persönliche Bekanntschaft mit dem großherzoglichen Kanzler ein kleines Stipendium, und Justus finanziert sein erstes Semester in Bonn zusätzlich als junger Privatdozent, der seine Kommilitonen unterrichtet. Kastner bietet ihm an, mit ihm zusammen in seiner "Küche" im Poppelsdorfer Schloss zu experimentieren – von einem Labor im heutigen Sinne kann bei den universitären Ausstattungen zu dieser Zeit noch nicht gesprochen werden. In Bonn ist Liebig ein ausgesprochen fleißiger Student, dessen einziges Ziel es ist, eine Existenz aufzubauen und das väterliche Geschäft gemeinsam mit seinem älteren Bruder Louis in eine chemische Fabrik umzuwandeln. In Erlangen, wohin er seinem Professor Kastner im Jahre 1821 folgt, hat er eine akademische Laufbahn im Sinn und gesellschaftlich-politische Interessen. Erlangen besitzt mit der Friedrich-Alexander-Universität die einzige protestantische Universität im katholischen Bayern, welche viele adelige Studenten aus ganz Bayern anzieht. Auch ist ihr Labor besser ausgestattet als das Bonner.
Erlangen
Liebig als korporierter Student in Erlangen 1821, Zeichnung aus 1843
Zusätzlich unterhält Liebig in seinen letzten Erlanger Tagen eine erotische Affaire mit dem später in einem Dichterstreit unsanft von Heinrich Heine geouteten August Graf von Platen, der sich in Erlangen auf eine Diplomatenkarriere vorbereitet. Der Briefwechsel ist erhalten.
Kastner, dem das weitere berufliche Schicksal seines Schützlings Liebig am Herzen liegt, verwendet sich beim hessischen Großherzog Ludewig I. und empfiehlt, dass eine halbjährige Vorbereitungszeit und ein halbjähriger Aufenthalt von Liebig in Paris genügen sollten, ihn als Chemielehrer und Multiplikator der Naturwissenschaften für das Land Hessen auszubilden. Mit einem mäßigen Gehalt könnte er auch noch ein Institut für angehende Apotheker und Fabrikanten einrichten – alles im Sinne des eigenen Landes.
Paris
Liebig werden daraufhin 330 Gulden gewährt, von denen er jedoch keineswegs ein halbes Jahr in Paris auskommt. Von der wissenschaftlichen Atmosphäre, in der er sich dort bewegt, ist er begeistert und vergleicht die Wissenschaft hier (Paris) und dort (Deutschland) mit einem geflügelten Pferd und einem alten Gaul. Die Hörerzahl in den Vorlesungen bei Gay-Lussac, Thénard und Biot mit regelmäßig 300 - 400 Studenten ist so hoch wie die gesamte Studentenschaft der Universitäten Bonn oder Erlangen. Chemische Vorlesungen in Deutschland sind eher der Naturphilosophie verpflichtet als der quantitativen Arbeitsweise und der streng mathematischen Ausbildung, die an der Ecole Polytechnique gelehrt wird und deren Methoden sich auch auf die naturwissenschaftliche Fakultät der Sorbonne ausbreiten, an der Liebig studiert. Sein Arbeitspensum ist von 7 Uhr früh bis Mitternacht, wie er einem Erlanger Corpsbruder schreibt.Durch Fleiß und gute Kontakte kommt Liebig über Thénard in den Genuss, in einem privaten Laboratorium seiner alten Liebe zu den Fulminaten nachzugehen und wendet seine neuen Kenntnisse der organischen Analyse auf diese an. Die Ergebnisse werden, wiederum auf Thénards Vermittlung, vor der Académie des Sciences vorgetragen, und zwar durch Gay-Lussac – die Demonstrationen werden von Liebig vorgenommen. Nach dem Vortrag spricht ein Herr aus der Riege der Academiemitglieder Liebig auf das freundlichste an, ohne seinen Namen zu nennen – spätere Nachforschungen ergeben, es handelt sich um Alexander von Humboldt, der seinen überaus reichen Einfluss geltend macht und Liebig brieflich dem hessischen Großherzog uneingeschränkt empfiehlt mit den Worten: "Wir haben den Vorzug, unter uns einen Ihrer Untertanen zu besitzen, der durch seinen überragende Begabung [und] seine umfangreichen chemischen Kenntnisse (...) die Aufmerksamkeit der Königlichen Akademie Frankreichs auf sich gezogen hat. (...) Er wird als Professor Ihrem Land Ehre machen."
Liebig, der Student ohne Matura, soll nun Professor werden ohne Studienabschluss. Weil das nun gar nicht geht, lässt sein Erlanger Professor Kastner wieder seine Beziehungen spielen mit dem Ergebnis, dass Liebig dem heutigen Stand der Forschung nach einen Honorar-Grad in absentia erhält, einen bezahlten in Abwesenheit also. Weil Liebig zu großen Hoffnungen Anlass gibt, einigt man sich darauf, eine seiner veröffentlichen Abhandlungen gemeinsam mit einer kurzen schriftlichen Abhandlung auf Kastners Frage zum Verhältnis der Mineralchemie zur Pflanzenchemie (das war ursprünglich der Titel von Liebigs geplanter Doktorarbeit) als Dissertationsschrift gelten zu lassen. Die Doktoratsurkunde ist mit 22. Juni 1823 rückdatiert.
Gießen und München
Justus Liebig in seinem Labor
Vor allem wegen seiner Verpflichtung, Apotheker auszubilden, wendet sich Liebig in den 1820er Jahren vermehrt der Organischen Chemie zu, die als solche noch nicht existiert. Die Organische Chemie befasst sich in erster Linie mit der Analyse der Nichtmetalle Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff.
Fünf-Kugel-Apparat
1831 lädt Philipp Lorenz Geiger seinen Freund und Kollegen Liebig wegen dessen permanenter Geldnot zur Mitherausgabe der Annalen der Pharmacie ein, die zwischen Liebigs Tod 1873 und 1997 unter dem Namen Liebigs Annalen der Chemie erscheinen, bis sie zusammen mit vielen anderen zum European Journal of Organic Chemistry zusammengelegt werden und bis auf den heutigen Tag ein wichtiges internationales Kommunikationsinstrument der Organischen Chemie sind.
In Gießen entstehen auch die drei wichtigsten Publikationen Liebigs, nämlich 1837 die Anleitung zur Analyse organischer Körper (in Folge der Erfindung des Kali-Apparats), 1840 die Agrarculturchemie (siehe "Leistungen") und 1842 die Thierchemie, wo er sich in erster Linie mit der Fettverbrennung, der Muskelgärung und der Analyse der Nährstoffaufnahme befasst und die Berzelius gewidmet ist.
Zunächst anonym erscheinen auch in der Augsburger Allgemeinen Zeitung ab 1841 die sogenannten Chemischen Briefe, allgemein verständliche Abhandlungen über das gesamte Gebiet der Chemie, die sich einer sehr großen Beliebtheit erfreuen und über die Jahre mehrfach in Buchform erscheinen, zuerst in England. Eine letzte, 6. Auflage als Ausgabe letzter Hand besorgt Liebigs Sohn Georg 1878. Die Chemischen Briefe sind 2007 wieder aufgelegt worden.
Liebig erhält im Laufe seines wissenschaftlichen Lebens mehrere Rufe an andere Universitäten, die er jedesmal ablehnt, aber geschickt zu Gehaltsverhandlungen nutzt: Die Absage des Rufes nach Wien 1840 beispielsweise verhilft ihm zu einer Verdoppelung seines Salärs. Erst im Jahr 1852, Liebig ist inzwischen der berühmteste lebende Chemiker auf deutschem Boden, folgt er der Einladung von König Max II. von Bayern nach München, wo ihm ein Labor zugesichert wird, das vollständig nach seinen Vorstellungen eingerichtet wird, zusätzlich ein Wohnhaus für die gesamte Familie, ein fürstliches Gehalt, weitestgehende Befreiung von der Lehre zugunsten verstärkter Forschungstätigkeit und bezahlte Stellen für mehrere Assistenten, die den Großteil der Lehrtätigkeit übernehmen.
Max II. übernimmt nach der sogenannten Bürgerlichen Revolution 1848 die Regentschaft von seinem Vater Ludwig I. und sieht sich zwischen den beiden Großstaaten Preußen und Österreich-Ungarn eingekeilt. Vormachtstellung auf territorialem Gebiet ist unwahrscheinlich, daher geht er die Bayerische Existenzsicherung auf wissenschaftlich-kulturellem Gebiet an. Es sind Liebigs Arbeiten zur künstlichen Felddüngung, warum man bereit ist, Geld in die Hand zu nehmen, um ihn für München zu gewinnen.
Neben engen wissenschaftlichen Beziehungen mit deutschen Kollegen führt Liebig ausführlich Korrespondenz mit der gesamten internationalen Chemikerschaft und ist über seine vielen ausländischen Schüler seines Gießener Labors international sehr vernetzt. Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen und Akademien im In- und Ausland und unternimmt zahlreiche Reisen, darunter sieben nach England, und ist auch bei der ersten Weltausstellung in London 1851 dabei. Seine vielen ausländischen Schüler tragen auch zur weltweiten Verbreitung seiner Art der Wissenschaft bei, und seit Liebig ist die lingua franca der Chemie für eine längere Zeit deutsch gewesen. Von den ersten 60 Chemie-Nobelpreisträgern waren 42 direkte oder indirekte Liebig-Schüler.
Liebig stirbt hochdekoriert am 18. April 1873 in München an einer Lungenentzündung. Noch zu seinen Lebzeiten hat die Versammlung deutscher Land- und Forstwirte eine Liebig-Goldmedaille prägen lassen, als Dank für Liebigs Beiträge zur Modernisierung der (deutschen) Landwirtschaft.
Liebigs Leistungen
UnterrichtsmethodeLiebig lernt in Paris eine gänzlich neue Methode des wissenschaftlichen Arbeitens kennen und führt das Experiment als fixen Bestandteil chemischen Unterrichts ein. Sein Labor ist nicht nur Werkstatt, sondern zugleich auch Lehrstätte. Er wird zum Wegbereiter des bis heute gängigen Unterrichtens naturwissenschaftlicher Fächer.
Das unerschrocken vorgetragene Experiment ist es auch, was seine öffentlichen Abendvorlesungen in München, die sogar in Anwesenheit von Damen durchgeführt werden, so unglaublich populär macht. Die Unerschrockenheit geht so weit, dass bei einer Vorführung im April 1853 die höchstselbst anwesende – und vermutlich als Ehrengast in der ersten Reihe sitzende – Königin Therese von Bayern nebst Sohn durch eine heftige Explosion leicht verletzt wird.
Elementaranalyse
Aufbauend auf die Arbeiten von Lavoisier und Berzelius erfindet Liebig zur einfachen und exakten Bestimmung des Kohlenstoffgehalts in Verbindungen den Kali-Apparat, der erstmals eine einfache Analyse der Nichtmetalle Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff erlaubt.
In den 1830er und 1840er Jahren gibt es mehrere wissenschaftliche Streitereien und Animositäten mit wechselnden Bündnissen unter den führenden Chemikern der Zeit, in die sämtliche an der Alten Technik verewigten Zeitgenossen verwickelt sind, nämlich Berzelius, Wöhler und Liebig. Wöhler charakterisiert in einem Brief vom März 1830 Berzelius gegenüber Liebig als fleißig, aber sich zu sehr bei Kleinigkeiten aufhaltend. Er "legt auf die Richtigkeit seiner Analysen ein viel größeres Gewicht als auf die Wahrscheinlichkeit, wie die Natur die Zusammensetzung einer Verbindung eingerichtet haben mag.". Andererseits beschwert sich Berzelius Wöhler gegenüber, dass Liebig dazu neige, Dinge übereilt zu veröffentlichen, damit ihm nicht wieder ein anderer zuvorkommt. Liebig hat immerhin zweimal versäumt, ein neues Element zu entdecken, nämlich Brom und Chlor, was ihn, den großen Anhänger der praktischen Anwendbarkeit, besonders wurmt.
Radikaltheorie
Justus Liebig und sein Freund Friedrich Wöhler, ausgebildet bei Berzelius und Professor in Berlin, finden auf Grund der Untersuchungsresultate an Benzoylverbindungen, dass viele Verbindungen bestehen, die nur aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, seltener Stickstoff, bestehen, die sich zu stabilen Gruppen formieren und als solche unverändert von einer in die andere Verbindung übertragen werden können, sich also wie Elemente in der anorganischen Chemie verhalten. Auch ihre Fähigkeit, sich mit anderen Elementen zu verbinden, ist sehr elementähnlich. Ein Beispiel für ein solches sogenanntes "Radikal" ist die Aethyl genannte Atomgruppe C2H5, die gleiche Verbindungen eingeht wie das Kalium.
Isomerie
Zusammen mit Gay-Lussac ermittelt Liebig in Paris auf experimentellem Wege die Zusammensetzung des Silberfulminats als AgONC, ein hochexplosives Salz der Knallsäure, das oberhalb von 190°C mit einem hellen Lichtblitz explosionsartig zerfällt. Friedrich Wöhler hat die selbe Formel für ein Salz der Cyansäure, das Silbercyanat, gefunden, AgOCN, das sich jedoch vorwiegend stabil verhält. Durch umfangreiche Untersuchungen kommen die beiden zu dem Schluss, dass es sich hierbei um eine von Berzelius so genannte "Isomerie" (griech. für "aus gleichen Teilen bestehend") handeln muss, wo zwei Verbindungen aus den selben Elementen, aber in anderem innerem Bauplan bestehen. Liebig vergleicht dieses Phänomen anschaulich damit, dass aus den Buchstaben D, E, M, O die Worte Dome, Mode, Odem gebildet werden können, die zwar aus den selben Teilen bestehen, aber durch die unterschiedlichen Aneinanderreihung verschiedene Bedeutungen haben.
Agrikulturchemie
Bereits im Jahr 1828 formuliert der Agronom Carl Sprengel: "Wenn eine Pflanze zwölf Stoffe zu ihrer Ausbildung bedarf, so wird sie nimmer aufkommen, wenn nur ein einziger an dieser Zahl fehlt, und stets kümmerlich wird sie wachsen, wenn einer derselben nicht in derjenigen Menge vorhanden ist, als es die Natur der Pflanze erheischt". Liebig erweitert dieses Axiom und sagt, dass das Wachstum einer Pflanze durch die am wenigsten vorhandene Ressource (Nährstoffe, Licht, Wärme, Wasser) limitiert ist. In seiner wichtigsten Publikation Die Organische Chemie in Anwendung auf Agrikultur und Physiologie aus dem Jahre 1840, kurz Agrikulturchemie genannt, schreibt er: "Als Prinzip des Ackerbaus muss angesehen werden, dass der Boden in vollem Maße das wieder erhält, was ihm genommen wurde. So regiert hier ein Gesetz des Minimums." Mit Hilfe von Liebigs Superphosphat-Dünger stieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Ernteertrag um das 5 - 6fache.
"Liebig-Tonne", Quelle: Liebig-Museum, Gießen, 2009
Backpulver
Unabhängig von Sauerteig große Mengen von Brot herstellen zu können ist besonders für die Truppenverpflegung eine große Erleichterung. Durch die Herstellung von Backpulver auf Natronbasis unter Zugabe von Kaliumchlorid durch Liebig wird sein amerikanischer Schüler Eben Norton Horsford zum Millionär. Liebig erhält für die Lizenzrechte etwa 150 Euro.
Liebigs Fleisch-Extrakt
Für die einzelnen Menschen jedoch ist Liebig noch lange nach seinem Tod am präsentesten durch die Erfindung und industrielle Herstellung des sogenannten Liebig-Fleischextrakts. Zunächst als verschreibungspflichtiges kräftigendes Infusium für Schwerkranke konzipiert, wird dieser Vorläufer von Instant-Suppe und Maggi-Würfel ab 1865 industriell in Uruguay vom deutschen Eisenbahningenieur Georg Christian Giebert hergestellt, der Liebig für die Lizenzrechte bis zu seinem Lebensende ein regelmäßiges Gehalt bezahlt. Zur Produktion von Liebig-Fleischextrakt benötigt man etwa die 30fache Menge Fleisch ohne Fett und Sehnen, welches in Deutschland sehr teuer ist. In Südamerika hingegen werden ganze Rinderherden nur für die Gewinnung von Häuten für die Lederindustrie geschlachtet, das Fleisch ist wegen der unzulänglichen Kühlmöglichkeiten nahezu wertlos. Zu Fleisch-Extrakt verarbeitet, ist es jedoch überall hin transportierbar und begleitet jahrzehntelang praktisch alle Wüstenforscher auf ihren Expeditionen, zum Beispiel auch Stanley bei seiner Suche nach Livingston. Liebigs Fleischextrakt wird heute noch hergestellt und als Suppenpulver in einem weißgläsernen Töpfchen verkauft, auf dem Liebigs Namenszug nicht fehlen darf. Seit 1875 (heute leider nicht mehr) werden diesem Erzeugnis kleine Bildchen beigegeben, die bald immer in Serien von je sechs thematisch zusammenhängenden Motiven zusammengefasst werden, insgesamt über 7000 Sets, die um hohe Summen gehandelt werden.
Diese Liebig-Bild-Serie wird für € 5.500,-- angeboten. Liebig Bilderdienst.
Vermischtes
Justus von Liebig ist seit 1826 mit Jettchen, Henriette Moldenhauer, verheiratet, mit der er fünf Kinder hat, die in weiterer Folge wie auch einige Geschwister beider Eheleute ein enges Geflecht an verwandtschaftlichen Beziehungen mit der deutschen Elite eingehen, so mit der Familie von Goethes Freundin Charlotte Buff, dem Chemiker und Liebigs Lieblingsschüler August Wilhelm Hofmann oder der Familie Thiersch. Zwei seiner Nachfahren studieren heute an der Universität zu Köln - wer hätte das gedacht - Chemie.Georg Büchner persifliert in seinem 1835 entstandenen Dramenfragment Woyzeck Liebig in Gestalt des Doktors, dem sich Woyzeck gegen Geld als medizinisches Versuchskaninchen stellt. Das Drama Woyzeck spielt in Darmstadt, Liebigs Heimatstadt. Zitat Doktor: "Hat Er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck? Nichts als Erbsen, cruciferae, merk Er sich's! Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff 0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul - Woyzeck, muß Er nicht wieder pissen?" Liebig arbeitet gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Wöhler, dem 1828 die künstliche Herstellung von Harnstoff gelungen ist, über die Harnsäure, und veröffentlicht die Empfehlung, viele Hülsenfrüchte zu essen, wenn man sich kein Fleisch leisten kann.
"Die Seife ist ein Maßstab für den Wohlstand und die Kultur der Staaten." aus: Chemische Briefe, 11. Brief.