Die Größen der Technik
<< zur NamenslisteGottfried Semper
Gottfried Semper
In Altona also wächst Gottfried auf und besucht ab 1819, der Franzosenzauber ist seit dem Wiener Kongress Vergangenheit, in Hamburg die Gelehrtenschule des Johanneums. Das Hamburger Johanneum ist eine altehrwürdige protestantische Eliteschule, die schon ein Jahr vor Formulierung des Augsburger Bekenntnisses (1530) von einem engen Vertrauten Martin Luthers gegründet wurde.
Nach der Matura geht Gottfried nach Göttingen studieren, Mathematik und Geschichte zunächst. Ob er Karl Friedrich Gauß kennengelernt hat, der seit 1806 in Göttingen einen Lehrstuhl für Mathematik innehat, ist nicht überliefert. 1825 zieht Semper weiter nach München, wo er bei Friedrich von Gärtner Architektur und Kunstgeschichte hört.
Wegen der Teilnahme an einem Duell muss er weg und besucht in Paris die Architektenschule von Franz Christian Gau, die vor allem Deutsche ausbildet. In Paris erlebt er auch die Julirevolution von 1830, die ihn sehr beeindruckt. Handwerker, Arbeiter und Studenten zwingen den letzten Bourbonen wegen immer weiter fortschreitender Restaurationsbestrebungen zum Abdanken, und er räumt das Feld für einen entfernten Verwandten, den sogenannten Bürgerkönig Louis Philippe von Orleans, den das gemäßigte Großbürgertum um Adolphe Thiers auf den Thron hebt. In Folge werden in verschiedenen deutschen Staaten Verfassungen formuliert, so auch in Sachsen, wo Gottfried Semper bald sein wird.
Zunächst aber ist er, wie sein preußischer Kollege Schinkel eine Generation vor ihm, auf ausgedehnten Studienreisen in Italien und Griechenland, um seine Kenntnisse über Architektur zu vervollkommnen. Vor Ort stellt er Untersuchungen darüber an, ob die uns als weiß bekannten Marmorfassaden griechischer und römischer Architektur immer weiß waren, und kommt zu dem Schluss, dass nein. Mit dem aufsehenerregenden Werk Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten im Jahre 1834 liefert er einen wesentlichen Beitrag zur damaligen Debatte über die Farbigkeit antiker Architektur, dem sogenannten Polychromiestreit, der vor allem durch Johann Joachim Winckelmanns Ausspruch über die "edle Einfalt und stille Größe" der griechischen Klassik geprägt ist, welcher auch von Goethe stark propagiert wird. Bunt geht da ja gar nicht.
Dresden
Dieser Bekanntheitsgrad führt dazu, dass Gottfried Semper 1834 den Lehrstuhl für Architektur an der Dresdner Kunstakademie erhält. Er leistet dem sächsischen König den Untertänigkeitseid und ist fortan Sachse in der sächsischen Hauptstadt, die wieder zu einem kulturellen Zentrum Mitteleuropas werden möchte.Also entfaltet Semper in Dresden sofort eine ausgedehnte Planungstätigkeit, deren Ausführungen jedoch bisweilen durch die Realität gebremst werden. So kommt es nicht zum Ausbau eines repräsentativen Forums, das er zwischen dem Dresdner Zwinger und der Elbe aufspannen will, als würdigen Rahmen für ein Denkmal des ersten sächsischen Königs Friedrich August I. Im Zuge der Rheinbundgründung 1806 wurden mehrere deutsche Mittelstaaten zu Königtümern von Napoléons Gnaden erhoben, so auch das Kurfürstentum Sachsen, denn Kurfürsten werden seit der Niederlegung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1804 nicht mehr benötigt.
erstes Hoftheater in Dresden von Gottfried Semper 1841, 1869 abgebrannt
Webers Jubelouvertüre ist auch bei der Eröffnung der zweiten Semper-Oper 1878 das Musikstück der Wahl, das erste Schauspiel in den neuen Räumlichkeiten ist auch wieder Goethe, aber diesmal "Iphigenie auf Tauris", ganz klassisch, wohl eine Folge des Historismus, der optisch allerorts Platz greift. Die zweite Semper-Oper wurde nötig, weil die erste 1869 abgebrannt ist. Sie wurde nach der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 wieder aufgebaut und erstrahlt seither in neuem Glanz.
Semperoper bei Nacht
© Pehlemann
Der dunklere Riegel in der Mitte ist die Gemäldegalerie, 1855. Im Hintergrund die zweite Semper-Oper von 1778. Links im Vordergrund ist der eine Teil des Zwingers zu sehen, der Gegenüberpart ist abgeschnitten.
Heute noch besucht werden kann auch die Gemäldegalerie, die den Zwingerplatz optisch nach Nordosten hin abschließt. Hier verbildlicht sich ein anderer Abschnitt aus Sempers Antrittsrede: dass für ihn Architektur nicht einfach die Technik ist, umbaute Räume zu schaffen, sondern Bau-Kunst schlechthin. Im Galeriegebäude geht es durch einen antiken Triumphbogen in die Vorhalle, in der die wichtigsten historischen Kunstschulen figürlich dargestellt sind. Über eine lange Treppe gelangt man in den "Olymp", die Gemäldegalerie der sächsischen Herrscher. Und über ein symbolisches Treppengebirge, das die Alpen darstellt, kommt man zu den Meisterwerken der italienischen Malerei. 1855 wird die Sempergalerie eröffnet.
Da ist Semper aber schon lang nicht mehr in Dresden - wenn auch unfreiwillig und unter Zurücklassung seiner Frau Bertha und der sechs Kinder:
Große Barrikade Anfang Mai 1849 an der Wilsdruffer Gasse, nach einer Graphik von C. W. Arldt
Sein Freund Richard Wagner, seit 1842 Hofkapellmeister am von Semper erbauten Dresdner Hoftheater, wo er mit der glänzenden Uraufführung seiner ersten Oper Rienzi brilliert und sich seither als Opernkomponist etabliert, informiert die Aufständischen vom Turm der Kreuzkirche herab über die Truppenbewegungen des preußischen Entsatzheeres vor der Stadt. Er entzieht sich der Haft durch Exil in der Schweiz.
Ihr gemeinsamer Freund, der Grazer August Röckel, seit 1843 Musikdirektor unter Richard Wagner, wird als Aufständischer gefangengenommen und erst nach 13 Jahren Haft als letzter "Maigefangener" entlassen. Wagner ist während dieser Zeit immer in Briefkontakt mit Röckel. Nach seiner Freilassung arbeitet er nur noch schriftstellerisch und stirbt 1876 in Budapest.
Der Revolutionstourist und Anarchist Michail Bakunin gehört zu den Anführern des Dresdner Maiaufstandes. Auch er wird gefangengenommen, nach einem Todesurteil zu lebenslanger Haft begnadigt und kann erst 12 Jahre später aus der Sibirischen Gefangenschaft fliehen. Seine Flucht führt ihn über Japan und die USA wieder nach Europa. Er setzt sich sehr für die Arbeiterbewegung ein und stirbt 1876 in der Schweiz.
Zürich
Gottfried Semper hingegen flieht über Paris nach England. Dort lebt er von einigen kleineren Aufträgen und ist in Ermangelung einer Fixanstellung in erster Linie mit theoretischen Arbeiten befasst. Einzig seine Gestaltung von vier Ländersektoren für die allererste Weltausstellung, die 1851 in London stattfindet, ist überliefert. Es entstehen Die vier Elemente der Baukunst und Wissenschaft, Industrie und Kunst. Sein Hauptwerk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik erscheint zwar erst später, erfährt aber London seine wichtigsten Impulse.ETH Zürich, fertiggestellt 1864, Foto um 1880. An der Nordfassade der ETH Zürich sind wie an der Alten Technik in Graz Künstler und Persönlichkeiten der Natur- und Ingenieurwissenschaften abgebildet, wie Michelangelo, Galilei oder Watt.
In Zürich wird 1855 mit dem Eidgenössischen Polytechnikum die erste Hochschule des neuen Schweizer Bundes gegründet. An diese Hochschule wird Semper auf Vermittlung seines Freundes Wagner, der selbst auf direktem Wege aus Dresden nach Zürich geflohen ist, als bestdotierter Professor auf Lebenszeit gewählt. In der Zürcher Zeit pflegt Semper im Salon des Ehepaares Otto und Mathilde Wesendonck häufig Umgang mit der geistigen Elite Zürichs wie C. F. Meyer, Gottfried Keller oder seinem Freund Richard Wagner, dessen Muse die Gastgeberin ist.
In der Zürcher Zeit gibt Semper nicht nur sein Hauptwerk heraus, sondern plant und baut auch das Hauptgebäude der späteren ETH Zürich, das er majestätisch ins Bild setzt, direkt über die Altstadt. Auch die Zürcher Sternwarte stammt von Semper.
So hätte das Wagner-Theater in München aussehen sollen. 1866/67
München ist also ein Nicht-Ort für Semper, aber die Dresdner wollen nach dem Brand des ersten Hoftheaters wieder Gottfried Semper als Architekten für den Neubau. Rechtlich ist das möglich, weil der Steckbrief seit 1863 aufgehoben ist, und Semper zeichnet auch alle Pläne, kehrt aber nicht nach Dresden zurück, um bei den Ausführungen anwesend zu sein, sondern beauftragt seinen Sohn Manfred als Mittelsmann. Diese Semper-Oper ist heute noch zu besichtigen.
Wien
"Kaiserforum" 1873: ein nur teilweise umgesetzter Entwurf Sempers für das Natur- und das Kunsthistorische Museum (im Vordergrund, vlnr) und die Burgerweiterung um das Heldentor
Wiener Burgtheater
Semperdepot 1875-77
Gottfried Semper leidet gegen Ende seines Lebens immer stärker an Asthma und stirbt am 15. Mai 1879 in Rom auf einer Erholungsreise.
Interessanterweise gibt es nirgends einen Hinweis darauf, ob sich die beiden wichtigsten deutschen Architekten des 19. Jahrhunderts, Semper und Schinkel, die nur eine Generation und ein mittelgroßes Königreich voneinander entfernt gewirkt haben, jemals kennengelernt haben oder voneinander wussten. Und auch ein Interesse an dieser Fragestellung konnte nicht festgestellt werden.