Die Größen der Technik

<< zur Namensliste

Franz Joseph Ritter von Gerstner

Franz Joseph Gerstner wird keine 4 Wochen nach Wolfgang Amadeus Mozart am 23. Februar 1756 in Komotau, Böhmen, geboren, und stirbt wenige Monate nach Johann Wolfgang von Goethe am 25. Juni 1832 auf Mladiegow bei Gitschin. Ob er die Werke seiner berühmten Jahreszahlgenossen gekannt hat, ist nicht überliefert.

Ausbildung unter Jesuiten


 
Franz Joseph Gerstner ist Sohn des Riemermeisters Johann Florian Gerstner, der als Bürger in der Komotauer Hottergasse ansässig ist, und dessen Frau Maria Elisabeth, einer Fleischhauerstochter. Obwohl er nicht aus reichen Verhältnissen stammt, kommt der begabte Knabe bereits mit 8 Jahren ins Komotauer Jesuitenkollegium zur Ausbildung. Gerstner ist noch vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Österreich geboren. Zu dieser Zeit haben die Jesuiten in vielen Orten die absolute Vorherrschaft in der ersten wissenschaftlichen Ausbildung, also alles nach der Volksschule.

Von dort wechselt Gerstner dann nach Prag an die Universität, wo er Vorlesungen aus Philosophie, Elementarmathematik, Griechisch, Hebräisch, Astronomie, höherer Mathematik und Theologie hört. Er beschließt sein Studium mit ausgezeichnet abgelegten öffentlichen Prüfungen 1776 und 1777 als "der Weltweisheit Doktor"“ (Dr. phil.). Sein Lehrer in Astronomie ist Joseph Stepling, der in höherer Mathematik Johann Tessanek.

Die meisten wesentlichen Personen im frühen Werdegang von Franz Joseph Gerstner sind oder waren Jesuiten (der Jesuitenorden wird 1773 von Kaiser Joseph II. aufgehoben) und werden später von ihm in Amt und Würden beerbt:

Der Jesuit Joseph Stepling (1716 - 1778) bleibt mit Willen Maria Theresias auch nach der Aufhebung des Jesuitenordens Studiendirektor der naturwissenschaftlich-mathematischen Abteilung der philosophischen Fakultät der Prager Universität. Obwohl niemals gereist, steht er in engem Briefkontakt mit vielen Gelehrten seiner Zeit, besonders mit dem Schweizer Mathematiker Leonhard Euler. Er ist Gerstners Astronomieprofessor, als Initiator und erster „praefectus speculae astronomicae“ der wissenschaftlichen Prager Sternwarte Vorgänger von Anton Strnad und als Naturwissenschaftler Lehrer von Johann Tessanek. Er bekehrt den Peripatetiker Tessanek zur Abkehr vom aristotelischen Weltbild und Hinwendung zu Newton. Peripatetiker nennt man Personen, die der Lehre des Aristoteles folgen.

Der Jesuit Johann Tessanek (1728 - 1788) folgt Stepling als Präses und Direktor der Philosophischen Fakultät an der Prager Universität und ist dort Gerstners Lehrer in höherer Mathematik. Er bringt Newtons erste zwei Bücher der „Philosophiae naturalis principia mathematica“ mit umfassendem Kommentar heraus und ist Mitglied der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag.

Zu seinem Tod verfasst sein Mathematikschüler, der Nachfolger Steplings in der Sternwarte Anton Strnad (1746 - 1799) und ehemaliger Jesuit, in den jährlichen Mitteilungen dieses Vereins dessen Lebensbild. Strnad ist als erster Astronom der Sternwarte Gerstners Vorgesetzter. Auch diese beiden sind Mitglied der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag, und beide veröffentlichen hintereinander einen Bericht über die Sonnenfinsternis vom 4. Juni 1788 in diesen Mitteilungen.

Ein weiterer Jesuit ist wegweisend in Gerstners Leben: der Direktor der Wiener Sternwarte, Maximilian Hell, Freund und Korrespondenzpartner von Stepling. Gerstner geht nach seinen ersten Dienstjahren als Ingenieur der praktischen Geometrie bei der Robot-Albolitions-Hofkommission (durch die Abschaffung der Leibeigenschaft 1781 in den böhmischen Ländern wurden umfassende Vermessungsarbeiten nötig) nach Wien, um dort Medizin zu studieren. Der Jesuit Hell ist es, der den jungen Gerstner veranlasst, sich wieder ganz der Astronomie und der Mathematik zu widmen, und stellt den Kontakt zur Prager Sternwarte und Strnad her, bei dem Gerstner 1784 als Adjunkt und zweiter Astronom beginnt. Er macht sich durch wissenschaftliche Veröffentlichungen einen gewissen Namen.

Professor Gerstner

Im Studienjahr 1788/89 liest Gerstner in Vertretung des im Juni verstorbenen Tessanek Höhere Mathematik an der Universität Prag. Für die öffentliche Prüfung seiner Studenten publiziert er die Schrift Einleitung in die statische Baukunst, die ihm gemeinsam mit dem herausragenden Abschneiden seiner Schüler und einer Empfehlungsschrift des Pariser Astronomen (und ehemaligen Jesuitenschüler) Jêrome de Lalande die vakante Lehrkanzel für Höhere Mathematik einträgt.

Franz Josef Gerstner, der sich schon in Komotau für die technischen Bedürfnisse der einzelnen Handwerke interessiert hat, erweitert seine Lehrvorträge, um auch die Anwendungen der bürgerlichen Gewerbe und der Industrie zu berücksichtigen. Er hat nämlich schon zu eigenen Studienzeiten das gesellschaftliche Verlangen nach Theoretisierung des technischen Wissens erkannt und erprobt nun die analysierende Kraft der Mathematik und der Mechanik am technischen Objekt. In der Folge steigt der Zulauf an regelmäßigen Hörern von 3-4 auf 70-80.

Zeitgleich damit einher geht sein Ruf als Sachverständiger für die rechnerische Lösung technischer Schwierigkeiten. Die Verlagerung seines Interessengebietes von der Astronomie zur Technik hat damit zu tun, dass Böhmen sich in dieser Zeit zum ersten Industrie-Ausfuhrgebiet der Habsburgermonarchie entwickelt.

Gründung des Prager Polytechnikums

Im Zuge der Aufklärung wird die Bedeutung einer flächendeckenden und umfassenden Bildung der Staatsbürger und der Zusammenhang von Bildung und Wohlstand erkannt. Kaiser Franz II. (1792 – 1735) setzt eine Hofkommission zur Revision der öffentlichen Unterrichtsanstalten ein, der Gerstner einen Bericht über die Situation der Technik vorlegen soll. In diesem Bericht weist er auf den hohen Stand der englischen Industrie hin und schlägt im Gegensatz zur herrschenden Auffassung vor, dass sich die Staaten des Kontinents nicht nur auf Land- und Bergbau konzentrieren sollen, wie bislang üblich, sondern auch auf die Verarbeitung der gewonnenen Rohstoffe (also zusätzlich zum Primärsektor den Sekundärsektor breiter einzuführen und zu stärken und die Wertschöpfung nicht allein England zu überlassen).

Um dies zu meistern, arbeitet Gerstner nach dem Vorbild der Ecole Polytechnique, die 1794/95 im Zuge der Französischen Revolution zur naturwissenschaftlichen Grundausbildung von nachmaligen Militäringenieuren (Straßen-, Brücken-, Kanal- und Festungsbau) gegründet wurde, einen Lehrplan „zur Emporbringung der vaterländischen Gewerbe durch wissenschaftlichen Unterricht“ aus. Dieser trifft bei den böhmischen Ständen auf offene Ohren und auch Schatullen, doch zieht sich die Sache aufgrund der Koalitionskriege mit dem nachrevolutionären Frankreich noch Jahre hin, bis endlich am 3. November 1806 mit dem Polytechnischen Institut in Prag die erste wissenschaftliche Technikausbildungsstätte auf deutschsprachigem Boden aus der Taufe gehoben wird (Prag ist bis Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegend deutschsprachig).

Zwei wesentliche Unterschiede gibt es jedoch von Anfang an zwischen dem Pariser und dem Prager System: Erstens ist die Pariser Ecole Polytechnique ein Kind der Revolution und dient von Anbeginn dem Ziel, Männer für die militärische Laufbahn auszubilden. Das Prager System hingegen bildet für Zivilzwecke aus. Und zweitens ist die Pariser Schule nur eine zwei- bis dreijährige wissenschaftliche Vorbereitungsschule für die eigentliche spezifische Militärfachschule, die im Anschluss besucht werden soll. Denn alle Arbeiten der verschiedenen Militäringenieurzweige gründen auf den selben wissenschaftlichen Prinzipien, fußen auf den selben Theorien und erfordern also die selben Vorstudien, wie es im Bericht für den Konvent heißt. Prag hingegen, wie auch alle weiteren Polytechnik-Gründungen und Technischen Hochschulen nach ihm, sind die "high-end-Stufe". Das bedeutet, dass sich zwar Prag sehr an Paris orientiert, aber unter anderen Gesichtspunkten gegründet wird, und alle folgenden Technischen Hochschulen sich an Prag orientieren, obgleich überall zu lesen ist, dass die Pariser Ecole Polytechnique aller Orten das Vorbild ist.

Franz Joseph Gerstner ist Professor für Mechanik und der Leiter dieser völlig neuen Institution. Er nimmt diese Leitertätigkeit zusätzlich zu seinem Lehrstuhl an der Prager Universität auf. Die Existenz dieses Instituts wird stark von dem Willen getragen, den böhmischen Ländern zu Diensten zu sein, sind es ja auch die böhmischen Stände, die mit allerhöchster kaiserlicher Genehmigung das Unternehmen Polytechnikum finanzieren. So ist jeder Professor des Polytechnischen Instituts verpflichtet, "jeden, der um Erklärung eines besondern sein Gewerbe betreffenden Gegenstandes aus den Lehrfächern der Chemie, Mechanik und Baukunst ansucht, Rath und Unterricht zu ertheilen".“ Auf diese Art und Weise wird Gerstner, der sich seit Jahren mit hydromechanischen Theorien befasst, zur ersten Instanz in allen wasserbaulichen Fragen in Böhmen.

Erste Eisenbahn auf dem europäischen Festland


Pferdeeisenbahn statt Kanal
Eine solche Frage betrifft 1808 einen Kanal zwischen der Donau und der Moldau, um auf dem Wasserweg Salz aus dem Salzkammergut nach Budweis zu transportieren. Das Salz wurde seit jeher über die Traun und die Donau bis nach Linz verschifft. Doch dann musste die Wasserscheide Böhmerwald überwunden werden, was zunächst über Saumwege geschah, auf denen zuletzt pro Jahr auf 18.000 Pferdekarrenfahrten je eine Tonne Salz transportiert wurde. Die Bedeutung von Salz ist vergleichbar mit der von Rohöl heute, denn Salz war sehr wichtig für die Haltbarmachung von Lebensmitteln und entsprechend gefragt. Der Salzhandel wurde vom jeweiligen Herrscher reglementiert und mit einer Steuer versehen. Mit Salz war viel Geld zu machen.

Gerstner kann in seinem Gutachten jedoch den Bau eines Kanals nicht empfehlen, weil dieser zur Überwindung der Wasserscheide über 300 Schleusen benötigen würde, und schlägt stattdessen eine Pferdeeisenbahn als Landverbindung vor. Die Kraftersparnis durch Minimierung der Haftreibung einer eisenbewehrten Schienenführung gegenüber einem Saumweg entspricht etwa dem Faktor 10. Dieser kühne Plan ist aber seiner Zeit weit voraus und wird zunächst, auch wegen anderer Prioritäten (Napoleon, Wiener Kongress), ad acta gelegt.

Erst 1825, im selben Jahr ist die Eröffnung der ersten öffentlichen Lokomotiveisenbahn zur Personenbeförderung von Stockton nach Darlington in Nordengland unter George Stephenson, beginnt man den Bau der ersten österreichischen Eisenbahn, einer Pferdeeisenbahn, unter Gerstners Sohn Franz Anton. Diese Pferdeeisenbahn ist nicht nur die erste auf dem europäischen Kontinent, sondern mit ihrer Distanz von 17 geographischen Landmeilen (das sind 126 km, das metrische Maß wird hierorts erst nach der Unterzeichnung der Meterkonvention 1875 eingeführt) auch gleichzeitig eine der längsten. Ihr Betrieb wird 1869 eingestellt.

Handbuch der Mechanik

Gerstner wird 1810 in den erblichen Ritterstand erhoben und erhält 1811 den Auftrag, für Böhmen eine Wasserbaudirektion zu organisieren, deren Vorstand er wird. "Sein Rat in Angelegenheiten industrieller Unternehmungen war gesucht und einflussreich; ja man kann mit Recht sagen, dass beinahe ein halbes Jahrhundert hindurch wenig solche größere Unternehmungen auf böhmischem Boden ohne seine unmittelbare oder mittelbare Mitwirkung ins Leben getreten sind." schreibt sein Biograph Karl Karmarsch.


Das Denkmal Gerstners in Komotau wurde 1932 gewidmet und nach 1945 von den Tschechen gesprengt
Wegen seiner im Alter schlechten Gesundheit und einer damit einhergehenden fortschreitenden Sehschwäche legt Gerstner 1822 zunächst seine Professur an der Universität nieder, 1828 die Wasserbaudirektion und zuletzt 1831 das Lehramt der Mechanik am Polytechnikum, dessen Leitung er jedoch bis zu seiner Quieszierung im April 1832 kurz vor seinem Tod beibehält. Er beginnt, sich der Niederschrift seines für Jahrzehnte wegweisenden Handbuchs der Mechanik zu widmen. Dieses Handbuch ist die Zusammenfassung seiner Vorlesungen, in denen er sich mit der Anwendung der reinen Mechanik auf Gegenstände des Gewerbes befasst. Sein Sohn Franz Anton besorgt für ihn die Edition dieses dreibändigen Werkes, wobei Gerstner nur das Erscheinen des ersten Bandes selbst noch erlebt. Er stirbt am 25. Juni 1832 am Gut seines Schwiegersohnes bei Gitschin (heute Jicín) in Böhmen.

Das Handbuch der Mechanik (1831 – 1834) ist das erste umfassende deutschsprachige Werk der Technischen Mechanik und gleichzeitig das herausragende Kompendium der verwissenschaftlichten Technik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo sich der Übergang von der Manufaktur in die Industrie vollzieht, und hat die Herausbildung der klassischen Technikwissenschaften wesentlich geprägt. Gerstner schreibt sein Handbuch so, dass es auch Personen ein Nachschlagewerk sein kann, die nicht Gelegenheit hatten, sich in die höhere Analysis zu vertiefen, und erweitert die Theorie der mechanischen Wissenschaft, wie sie in bereits vorhandenen Schriften für ein gelehrtes Publikum veröffentlicht wurde, um praktische Anwendungsbeispiele aus den mechanischen Gewerben, so dass der Nutzen sich auch auf Personen ausdehnt, die an industriellen Unternehmungen teilnehmen. In vielen Anwendungsbeispielen sind die neuesten aus England stammenden Konstruktionen beschrieben, die der Sohn Franz Anton auf seinen drei Englandreisen kennengelernt hat und nun einarbeitet. Das Handbuch der Mechanik soll laut Vorrede so beschaffen sein, dass auch Personen mit nur elementaren Mathematikkenntnissen, die keine Möglichkeit haben, Vorlesungen und Seminare zu hören, es zum Selbststudium nutzen können.

Franz Joseph Gerstner war zweimal verheiratet und hat aus der ersten Ehe mit der Prager Arzttochter Gabriele von Mayersbach (+ 1808) neun Kinder.