Die Größen der Technik
<< zur NamenslisteFriedrich Wöhler
Friedrich Wöhler kommt am 31. August 1800 in Eschersheim bei Frankfurt am Main zur Welt. Er ist das erste Kind von August Anton Wöhler, studierter Tierarzt und Agrarwissenschaftler, Stallmeister am Hofe des Herzogs von Meiningen, der als Nebenamt auch noch die Leitung des Hoftheaters in Meiningen innehat. Später erwirbt er sich durch die Förderung des Schul- und Sparkassenwesens hohes Ansehen. Die Mutter Anna Katharina Schröder ist Tochter eines Gymnasialdirektors.Eine gute Bildung seines Sohnes liegt dem Vater am Herzen, und große Namen befinden sich unter seinen Lehrern, allein, die Leistungen des Sohnes bleiben bestenfalls mittelmäßig. Friedrich befasst sich lieber mit chemischen Experimenten und seiner Mineraliensammlung. Mineraliensammlungen gehören für die Bildungsschicht Anfang des 19. Jahrhunderts zum guten Ton.
Noch vor Aufnahme seines Medizinstudiums isoliert Wöhler das erst 1817 von J. J. Berzelius entdeckte Element Selen in der böhmischen Schwefelsäure und Spuren des ebenfalls 1817 entdeckten hochgiftigen Metalls Cadmium im Zink. Aus russischen Kupfermünzen und Zinkplatten baut er eine Volta-Säule, um die Elektrizität zu studieren, und macht allerlei chemische Versuche in der mütterlichen Küche.
Der junge Wöhler (Smith Memorial Collection, Penn Library)
Bei Berzelius führt Wöhler eine Vielzahl quantitativer Mineralanalysen durch und wird so zum sicheren und geduldigen Analytiker, nachdem er sich von Meister Berzelius öfter anhören musste: „Doctor, das war schnell, aber schlecht.“ Wöhler befasst sich wieder wie schon während seiner Studienzeit mit verschiedenen Cyanverbindungen und unternimmt mit Berzelius auch eine geologische Reise durch Schweden und Norwegen.
Freundschaft mit Liebig
Dieses Foto zeigt (von links) die Fachkollegen Heinrich Buff, Friedrich Wöhler, Hermann Kopp und Justus Liebig beim Kartenspiel. Buff und Kopp sind beide Schüler Liebigs gewesen. Der Neffe von Charlotte Buff ist Ordinarius für Physik in Gießen, Kopp Professor für Physik und Chemie ebenda.
Seit 1829 bis zu Liebigs Tod 1873 gibt es eine ständige Korrespondenz dieser beiden unterschiedlichen Charaktere, herausgegeben im Jahre 1888 von Liebigs Schüler Hofmann unter Mitarbeit von Wöhlers Tochter Emilie. Im Vorwort charakterisiert Hofmann die beiden: „Liebig reizbar und leichtverletzt, alsdann aufbrausend, seiner Bewegung kaum Herr und derselben nicht selten in herben Worten Luft machend, daher auch oft in lange und heftige Fehde verwickelt (Liebig liegt zeitweise mit der gesamten internationalen Kollegenschaft im Streit, mit jedem einzeln und allen zusammen, Anm. G.C.), - Wöhler leidenschaftslos, selbst übelwollender Herausforderung gegenüber unerschütterlichen Gleichmuth bewahrend, den bittersten Gegner durch die Gemessenheit seiner Sprache entwaffnend, ein abgesagter Feind von Zank und Hader und daher auf eines Friedenssschlusses kaum bedürftig, - aber beide Männer von demselben unbeirrbaren Gerechtigkeitssinne durchdrungen.“
Aluminium und Harnstoff
Zwar hat Wöhler immer noch den Plan, sich zu habilitieren, folgt aber auf Anraten zahlreicher Freunde einem Ruf an die erst kürzlich gegründete Gewerbeschule in Berlin, deren reiche Ausstattung ihn sehr reizt und wo der Umgang mit Männern wie Magnus, Mitscherlich und den Brüdern Rose, allesamt Berzelius-Schüler, sehr anregend zu werden verspricht. In Berlin hat Wöhler ein eigenes Labor, in dem er mit seinen Studenten sehr fleißig arbeitet. Diese Aluminium-Brosche bringt Wöhler aus Paris mit.
(Deutsches Museum, München)
Wöhlers wesentlichste Entdeckung jedoch ist die Harnstoffsynthese, also die künstliche Herstellung von Harnstoff aus Cyansäure und Ammoniak, auf die er zufällig kommt. Er mischt zwei Salze, nämlich Silbercyanat und Ammoniumclorid, um daraus die anorganische Substanz Ammoniumcyanat zu gewinnen. Zu seiner großen Überraschung jedoch erhält er eine Substanz, die zwar die selbe Molekülformel hat wie Ammoniumcyanat, sich jedoch als die organische Verbindung Harnstoff entpuppt, dessen chemische Eigenschaften sich von denen von cyansaurem Ammoniak doch stark unterscheiden. Hier handelt es sich (wiederum) um zwei isomere Verbindungen, bei denen die gleiche Art und Anzahl von Atomen vorhanden ist, diese jedoch unterschiedlich miteinander verknüpft sind. Wöhler schreibt an seinen schwedischen Professor und Freund Berzelius: „…ich kann, so zu sagen, mein chemisches Wasser nicht halten und muss Ihnen sagen, dass ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Tier, sey es Mensch oder Hund, nöthig zu haben. Das cyansaure Ammoniak ist Harnstoff. (...) Wenn nun (…) bey der Zersetzung von cyansaurem Blei durch Ammoniak kein anderes Product als Harnstoff entstanden war, so musste endlich (…) der Pisse-Harnstoff genau dieselbe Zusammensetzung haben (…).“ Berzelius antwortet ihm launig: „Nachdem man seine Unsterblichkeit beim Urin angefangen hat, ist wohl aller Grund vorhanden, die Himmelfahrt in demselben Gegenstand zu vollenden (…)“
Warum ist es nun so eine große Leistung, Lulu künstlich herzustellen? Es ist das allererste Mal, dass eine organische Substanz, etwas, was im Leibe von Tieren oder Menschen entsteht, auch aus anorganischen Stoffen künstlich dargestellt werden kann. Bis dahin hatte man das für unmöglich gehalten und für ihre Entstehung die Mitwirkung einer besonderen transzendenten Lebenskraft („vis vitalis“, die Alchemie lässt grüßen) angenommen. Die Vitalisten, wie die Anhänger der Lebenskraft-Theorie heißen, zweifeln Wöhlers Entdeckung noch bis in die 1860er Jahre an. Dennoch gilt Wöhlers Harnstoffsynthese aus dem Jahre 1828 als Geburtsstunde der synthetischen organischen Chemie. Die diesbezügliche nur 4-seitige Veröffentlichung trägt Wöhler den Professorentitel ein.
Kassel und Göttingen
1831 bricht in Berlin die Cholera aus, und Wöhler bringt seine junge Frau, seine Cousine Franziska Wöhler, die er am 1. Juni 1830 geheiratet hatte, und das Söhnchen August zu ihren Eltern nach Kassel, wo er am soeben gegründeten Polytechnikum eine Stelle annimmt. Nebenamtlich verwaltet er eine Fabrik zur technischen Nickelgewinnung.Kurz nach der Geburt der Tochter Sophie stirbt Franziska im Juni 1832, und Liebig lädt seinen Duz-Freund Wöhler in einem sehr rührenden Beileidsbrief ein, in seine Familie nach Gießen zu kommen, um den Verlust gemeinsam besser zu tragen. Außerdem fordert er ihn, quasi zur Ablenkung, zu gemeinsamer Forschung über das Bittermandelöl auf.
Sie finden heraus, dass die Derivate dieses Öls immer ein Vielfaches von C14H10O2 (dies ist die zeitgenössische Schreibweise, die heutige Notation des Benzoyl-Radikals ist C7H5O) enthalten, was sie à la longue auf die Radikalentheorie bringt. Diese besagt, dass es Verbindungen der Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff (selten auch Stickstoff) gibt, die sich so verhalten, als wären sie gemeinsam ein einzelnes Element; eine Tatsache, die Berzelius nachhaltig beeindruckt. Dieses Radikal erhält den Namen Benzoyl mit dem Kürzel Bz. Es handelt sich um einen nicht isolierbaren Bestandteil der Benzoesäure.
Lithographie von R. Hoffmann 1836
1833 wird Wöhler Direktor des Kasseler Polytechnikums und übergibt diesen Posten drei Jahre später an Robert Bunsen, um selbst einem Ruf als Chemie-Professor an die renommierte Universität Göttingen zu folgen, wo er bis zu seinem Tode 1882 bleibt. Gleich wie Liebig an seinem Gießener Institut hat auch er sehr viele ausländische Hörer, insbesondere viele post-graduate-Chemiker aus England und Amerika, und beide sind Pioniere in der Vermittlung naturwissenschaftlichen, namentlich chemischen Unterrichts. Anders als damals üblich führt nämlich nicht der Professor seinen Studenten ausgewählte Experimente vor, sondern die Studenten müssen in einem verpflichtenden Laborpraktikum selbst in der Lage sein, Experimente durchzuführen, was zur Basis des heute üblichen modernen Laborunterrichts wird. Auch die heute gängige Praxis der Forschung in Laborgruppen führen sie ein.
Liebig hält hohe Stücke auf Wöhlers Unterrichtsqualität, wie man aus einem Briefwechsel erfährt: Auf die Bitte Wöhlers, einen seiner Studenten in sein Gießener Labor zu übernehmen, für den er selbst leider keinen Platz hat, antwortet er ihm augenzwinkernd: „Es sind recht dumme Kerls, die von Göttingen nach Gießen gehen, der Chemie wegen, vom Gaul auf den Esel.“
Publikationen und Ehrungen
Wöhler hat zwei wichtige Lehrbücher geschrieben: 1833 Unorganische Chemie und 1844 Organische Chemie. Beide erleben mehr als ein Dutzend Auflagen, die letzten etwa um Wöhlers Tod, und werden in sieben Sprachen übersetzt. 1849 erscheinen die Praxisbeispiele für analytische Chemie. Dieses „Kochbuch“ hat Wöhler für seine Praktikanten „zusammengeschmiert, um mir die ungeheure Langeweile zu ersparen, ein und dieselbe Sache tausendmal vorzupredigen.“, wie er an Liebig schreibt. Auch weitere Auflagen, unter den Titeln Praktische Übungen in der chemischen Analyse (1853) und Die Mineralanalyse in Beispielen (1861) erscheinen ohne seinen Namen, „weil jeder so ein Buch schreiben kann.“
Gemeinsam mit Liebig und Poggendorff gibt er die ersten sechs Bände des Handbuchs der reinen und angewandten Chemie heraus, das seit 1842 in unregelmäßigen Abständen erscheint. Seit Liebigs gescheitertem Versuch, seine Annalen der Pharmacie unter Verwendung der Namen seiner Pariser Kollegen zu internationalisieren, tritt Wöhler auch als Mitherausgeber dieses Periodikums auf. Er ist es auch, der 1840 die Umbenennung in „Annalen der Chemie und Pharmacie“ anregt, um den geneigten Käufer nicht über die Inhalte irrezuleiten. 1873, nach Liebigs Tod, erfolgt dann die weitere Umbenennung in „Liebigs Annalen der Chemie“, und Wöhler gehört bis zu seinem Tod dem Herausgeberteam an.
Zwischen 1821 und 1848 übersetzt Wöhler wie auch Gmelin die Jahresberichte über die Fortschritte der Chemie und Mineralogie der Schwedischen Akademie der Wissenschaften aus dem Schwedischen ins Deutsche, die sein Freund Berzelius als ständiger Sekretär herausgibt, und besorgt die deutsche Ausgabe von dessen überall verwendetem Lehrbuch der Chemie. Er übersetzt auch verschiedentlich andere Veröffentlichungen von Berzelius.
Friedrich Wöhler, Kreidezeichnung von Ferdinand Lührig 1878 (Städtisches Museum Göttingen)
Obwohl er im Alter von 40 Jahren erst ein Viertel aller seiner Publikationen veröffentlicht hat, war keine seiner späteren Werke mehr so wichtig wie seine früheren Beiträge, ein Phänomen, das bei vielen Naturwissenschaftlern beobachtet werden kann. Schon allein die Harnstoff-Synthese 1828 hat ihn in den chemischen Olymp gebracht. Zusätzlich verdankt die Chemie ihm gemeinsam mit Liebig die Ordnung der Organischen Chemie in eine systematische Wissenschaft. Er selbst arbeitet lieber auf dem Gebiete der Anorganik und gilt wegen seiner alle Felder der Chemie umfassenden Forschungstätigkeit als einer der letzten Universalgelehrten der Chemie.
Wöhlers Denkmal in Göttingen.
Richard Zsigmondy, der zwischen 1893 und 1899 an unserer TU Graz, der damaligen k. k. technische Hochschule, als Privatdozent Vorlesungen in Elektrochemie und Chemie der Silikate gehalten hat und 1925 mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt wurde, ist von 1908 bis zu seinem Tode 1929 als Ordinarius für Anorganische Chemie an der Universität Göttingen ein Nachfolger Wöhlers.
Zur Beschreibung der Person Friedrich Wöhler soll folgende Geschichte dienen:
Wöhler führt eine ausgedehnte Korrespondenz mit Fachkollegen. Zur gleichen Zeit gibt es Autographensammler, das sind Personen, die handschriftliche Briefe von bedeutenden Zeitgenossen sammeln, und es ist gar nicht ungewöhnlich, dass Briefe, die von einer Person A an eine Person B gerichtet wurden, so formuliert sind, dass sie durchaus veröffentlicht werden können. Der Individualitätsgedanke, das Briefgeheimnis, das heute einen sehr hohen Stellenwert hat, waren im 18. und auch im 19. Jahrhundert noch nicht in der heutigen Form ausgeprägt.
Wöhler wird in fortgeschrittenem Alter über Vermittlung eines Kollegen für einen Autographensammler in Aschersleben um Correspondenzteile gebeten und antwortet diesem bereitwillig und sehr freundlich und schickt eine Sammlung von Briefen bekannter Kollegen mit. Daraufhin bedankt sich der Autographensammler Gustav Ferdinand Heyse bei Wöhler mit einer Auswahl seltener und schöner Mineralien, und es entspinnt sich eine jahrzehntelange Brieffreundschaft zwischen den beiden. Da werden lokale Köstlichkeiten hin- und hergeschickt (Göttinger Würste nach Aschersleben, Gänseleberpastete nach Göttingen in die Hospitalstraße), auch legt Heyse für Wöhlers Tochter Emilie einen Gedichtband seines Neffen, dem nachmaligen Literaturnobelpreisträger Paul Heyse, als Weihnachtsgeschenk bei. Die Freundschaft indes beruht allein auf Korrespondenz – die beiden Herren sind einander nie begegnet.